- Home ›
- Themen ›
- Wirtschaft und Umwelt ›
- Fehlprognosen beim Stromverbrauch
Fehlprognosen beim Stromverbrauch
In den 70er Jahren wurden vollkommen überzogene Prognosen zum Stromverbrauch erstellt. Die Folge waren gigantische Überkapazitäten bei den Kraftwerken, die Stromsparen und alternative Energien verhinderten.
Das Totschlagargument: Ohne neue Kraftwerke gehen die Lichter aus
"Wenn das Kernkraftwerk Whyl nicht gebaut wird, dann gehen Anfang der 80er Jahre im ganzen Land die Lichter aus." Dieser Satz, den der baden-württembergische Ministerpräsident Karl Filbinger in den 70er Jahren ausgerufen hatte, steht stellvertretend für eine damals weitverbreitete Kampagne. Wer gegen weitere Kraftwerke war, der stellte die Zukunft des gesamten Landes in Frage. Denn der Stromverbrauch steige auf unabsehbare Zeit dramatisch an.
Die Wirklichkeit: Die Kampagne begann genau dann, als es genügend Strom gab
In der ersten Nachkriegszeit war die Stromversorgung in Deutschland tatsächlich eine wacklige Sache. Der Ausbau der Kraftwerke konnte mit dem stark steigenden Stromverbrauch kaum Schritt halten. Immer wieder drohte ein Black Out. Im Jahr 1971 allerdings kam die Wende, der Flaschenhals war überwunden. Denn von nun an stieg die Kraftwerkskapazität schneller als die Nachfrage. Der forcierte Kraftwerksbau aus den späten 60 er Jahren zeigte seine Wirkung. Hingegen wurde die Zuwachsrate beim Stromverbrauch sogar immer geringer.
Von 1972 bis 1976 gingen weitere 29 000 MegaWatt (MW) ans Netz, während die Spitzenlast, also die maximale Stromabnahme, lediglich um 8 000 MW anstieg. Das Stromangebot überholte die Stromnachfrage mit 3,5 facher Geschwindigkeit. Nun musste in Deutschland niemand mehr Angst vor einer Stromlücke haben.
Der Flaschenhals war überwunden
Just zu diesem Zeitpunkt jedoch erfolgte die "2. Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung". Unterstützt von drei führenden Wirtschaftsforschungsinstituten. Und begleitet von schrillen Warnrufen der Industrie und der Stromwirtschaft. "Wenn wir nicht massiv weitere Kraftwerke bauen, geht demnächst der Strom aus!" Die Konzerne Veba und RWE prognostizierten für die kommenden 10 Jahre einen Zuwachs beim Stromverbrauch von 6 – 7 Prozent. Pro Jahr, wohlgemerkt. Dabei waren die Zuwächse bereits Anfang der 70er Jahre gerade noch halb so hoch.
Wenn die Verbraucher sich nicht an die Stromprognosen halten.
Die Bundesregierung interessierte sich jedoch nicht für die tatsächliche Entwicklung sondern folgte den Prognosen der Konzerne. "Von 1975 bis 1985 würde der Stromverbrauch in Deutschland um jährlich 6 Prozent anwachsen", stand deshalb in der Fortschreibung des Energiebereichts der Bundesregierung. Ab 1986 läge dann die jährliche Steigerung "nur" noch bei 5,7 Prozent. Tatsächlich stieg der Verbrauch in Deutschland zwischen 1975 und 1980 nur noch um 4 Prozent pro Jahr. Von 81 bis 85 um jährlich 2 Prozent und von 85 bis 90 um lediglich noch 0.6 Prozent. In der Gesamtsumme heißt dies: Der Stromverbrauch hätte sich, gemäß den Prognosen von 1973, um 310 TerraWattStunden (Twh) im Jahr 1983 auf 610 Twh steigern sollen. Selbst 2016, also 33 Jahre später, und trotz 17 Mio zusätzlicher Bürger aus der Ex-DDR, lag er mit 516 TWh immer noch meilenweit unter dem Prognosewert für 1983.
Die Folgen der falschen Prognosen
In diesen Jahren wurden riesige Kraftwerkskapazitäten erstellt. Und die Bundesregierung erklärte darüberhinaus, "schwerwiegende Folgen für die Energieversorgung wären unvermeidlich", würde man nicht bis 1985 weitere 50 000 MW (!) Atomstrom installieren. Dies hätte etwa 38 zusätzliche AKW bedeutet – eine Irrsinns-Planung, die durch die immer stärker werdende atomkritische Bewegung wenigstens weitgehend gestoppt werden konnte. Dennoch stand 1985 in Deutschland einer Jahreshöchstlast von 59 000 MW eine Kpazität von 86 000 MW gegenüber. Eine, als teure "Reserve" kaschierte Überkapazität von 46 Prozent – die vergleichbare Industrienation Japan kam gleichzeitig mit einer Reserve von 8 Prozent problemlos zurecht. Angesichts derartiger Überkapazitäten durfte es natürlich weder irgendeine Energiesparpolitik, noch durfte es eine Förderung regenerativer Stromerzeugung geben. Im Gegenteil, es wurden Stromheizungen subventioniert und Verschwendungskampagnen unter dem Titel "Strom ist Leben" geführt.
Warum schöpfte niemand Verdacht?
Wie ist es möglich, dass derartig gegen die vorliegenden Fakten gehandelt werden konnte? Wurden diese gigantischen Fehlprognosen von unqualifizierten Instituten oder unfähigen Beamten erstellt? Mitnichten. Sie stammten von den führenden Wirtschaftsforschngsinstituten sowie den energiewirtschaftlichen Fachabteilungen des Wirtschaftsministeriums. Das extreme Ausmaß der Fehler lässt sich wohl nur durch massiven Lobbyeinfluss erklären. Es fällt schwer zu glauben, dass hierbei "nur" Psychodruck und nicht auch finanzielle Zuwendungen zum Tragen kamen.
Eine halbe Stunde hätte genügt
Warum aber haben die Parlamentarier keinen Verdacht geschöpft? Denkbar wäre, dass deren Erfahrungen mit Stromknappheit in den 50er und 60er Jahren die Wahrnehmung so stark geprägt hatten, dass auch nach der Überwindung des "Flaschenhalses" für sie immer noch das "Viel hilft viel" gegolten hatte. Prognosen, die in diesem Sinne weiter liefen, wurden deshalb offensichtlich von niemandem mehr überprüft. Auch wenn eine halbe Stunde genügt hätte, um die sich abflachende Verbrauchskurve mit den exponentiell steigenden Prognosen zu vergleichen und somit den Aberwitz aufzudecken.
Fazit: Initiativen und Parteien müssen gut zusammenarbeiten
Durch diese Kampagnen wurden zig Milliarden in die fossilen und atomaren Erzeugungsanlagen gesteckt und standen damit für regenerative Erzeugung nicht mehr zur Verfügung. Erst als die Ökologiebewegung und die Grünen als ihr parlamentarischer Arm, in den 80 er Jahren immer stärker wurden, konnte dieser Prognoseschwindel systematisch entlarvt werden. Ein Zeichen auch dafür, wie wichtig es ist, dass alternative Bewegungen ihren meist hohen Sachverstand einbringen. Dass die rot-grüne Koalition im Jahr 2000 dann den Atomausstieg und das Erneuerbare Energien Gesetz auf den Weg brachten, zeigt, dass außerparlamentarische Initiativen und Parteien auf fruchtbare Weise zusammenarbeiten können und müssen - siehe auch Fehlprognosen beim LKW-Verkehr
Text und Redaktion: Heiner Müller-Ermann (Sprecher BN-Arbeitskreis Wirtschaft)