- Home ›
- Themen ›
- Wirtschaft und Umwelt ›
- Wirtschaft und Wachstum
Wirtschaft und Wachstum
"Nur wenn wir ein beständiges Wachstum haben, funktioniert unsere Wirtschaft. Andernfalls sinkt der Wohlstand aller Menschen im Land." Wirklich?
Das Totschlagargument: Ohne permanentes Wachstum kann die Wirtschaft nicht funktionieren
Man hört es immer wieder. - Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) muss stets weiter ansteigen, denn sonst kollabiert der Wirtschaftskreislauf. Massenarbeitslosigkeit folgt, Deutschland wird deindustrialisiert, breite Schichten der Bevölkerung fallen in die Armut. Deshalb müsse das BIP, also die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen, wachsen und wachsen...
Die Wirklichkeit: Das BIP unterscheidet nicht zwischen gut und schlecht
Sagt der Bäcker zur Bäckerin: "Dieser Monat war besonders gut, unser Umsatz ist um 16 Prozent gestiegen." Die Bäckerin stutzt, schaut in die Bücher. "He Bäcker, geht's noch?" fragt Sie ihren Mann, "Du hast ja die Reparaturkosten für den Lieferwagen auch mit gezählt. Und die Rechnung für diese ärgerliche Software-Havarie. Mann, das hat uns doch alles nur geschadet - lerne endlich mal, wie man eine seriöse Gewinn- und Verlustrechnung macht!" Der Bäcker reagiert beleidigt. "Aber ich mach's doch haargenau wie beim Bruttoinlandsprodukt, ich zähl alles zusammen. In diesem Monat ist es eben mehr, also geht's uns besser."
Mehr kann schlecht, weniger kann gut sein
Es ist tatsächlich so. Das BIP zählt - wie der Mann der Bäckerin - einfach alle Zahlungsvorgänge zusammen. Denn das BIP will einfach wissen, wie viel in einer Volkswirtschaft produziert wird und wie viele Dienstleistungen erbracht werden. Das ist sicherlich eine interessante Statistik für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft im Land - aber mehr ist es nicht und darf es nicht sein. Weil das BIP eben nicht sagen kann, ob die Lebensverhältnisse der Menschen besser oder schlechter werden. Es zählt ja nur alles zusammen, ganz gleich, ob es eine tatsächliche "Wertschöpfung" ist oder eher eine "Schadschöpfung." Die Bäckersleute beispielsweise haben die Reparaturkosten für Lieferwagen und Computer bestimmt nicht als Steigerung ihrer Lebensqualität eingestuft.
Wirklich erfreulich sind Kopfschmerzen nicht
Genauso wenig wie sich die Anrainerin über den neuen Flughafen freut. Aber die 14.90 Euro, die sie wegen des Lärms nun für Schlaftabletten ausgeben muss, die lassen das BIP um genau weitere 14.90 Euro wachsen. Oder wenn in Deutschland 100 Kommunen wegen der Agrargifte im Trinkwasser tiefere Brunnen brauchen, dann steigern alle Rechnungen der Bohrfirmen das BIP. Und wenn, nach einem durch den Klimawandel verschärften Hochwasser, neue Möbel angeschafft werden müssen, auch das erhöht das BIP.
„Die Umwelt ist jetzt eben nachrangig“
Nun wäre das alles nicht so schlimm, wenn das BIP nur eine der vielen Orientierungsgrößen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wäre. Tatsächlich jedoch gilt das BIP als „die zentrale Größe der Wirtschaftspolitik“. Je kräftiger das BIP steigt, umso besser steht es um das Land - so ist die vorherrschende politische Meinung. Stagniert es, oder geht es gar zurück, bricht Katastrophenstimmung aus. Dann muss das Wachstum wieder angekurbelt werden, koste es was es wolle. Da muss "die Umwelt eben zurückstehen", weil ja sonst der ganze Wohlstand zusammenbricht. Können dann wieder positive Zahlen vermeldet werden, ganz gleich warum, freuen sich der Wirtschafts- und der Finanzminister um die Wette. Genauso wie der etwas schlichte Mann der Bäckermeisterin.
Fazit: Wir müssen diskutieren, was wachsen und was schrumpfen soll.
Das BIP ist zur Messung der Lebensqualität absolut ungeeignet. Deshalb sollten wir Ökologen uns auf keine Diskussionen über die "Höhe" der Wachstumsrate einlassen. Auch die Forderung nach "Nullwachstum" hilft nicht weiter. Wir sollten statt dessen diskutieren: "Was soll wachsen, was soll ungefähr gleich bleiben und was soll sinken?" Soll es mehr Lehrer und Solarenergie geben oder mehr Autobahnplaner und Kohlestrom? Soll der Biolandbau unterstützt werden oder die industrielle Landwirtschaft? Wollen wir auch schwächeren Ländern Chancen lassen oder unseren Exportüberschuss immer weiter nach oben treiben? Mit diesen Fragen entscheiden wir darüber, wie wir morgen leben wollen, welche Welt wir für unsere Enkel wünschen. Das ist übrigens Politik. Und es ist eine ungleich intelligentere Politik, als jedes Quartal lediglich auf eine Prozentzahl für das BIP zu starren, aus der niemand ersehen kann, ob sie unsere Lebensqualität steigert oder senkt.
Text und Redaktion: Heiner Müller-Ermann (Sprecher BN-Arbeitskreis Wirtschaft)