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Erosion der Artenkenner
Artenkenner wissen, wie die Gelbbauchunke ruft und können das Braunkehlchen problemlos vom Schwarzkehlchen unterscheiden. Für den Naturschutz sind diese Experten immens wichtig. Doch sie drohen auszusterben. Bereits heute gibt es 20 Prozent weniger als noch vor 20 Jahren. Und viele von ihnen sind bereits 60 Jahre oder älter.
Erosion der Artenkenner – vielleicht werden sich einige von Ihnen fragen, ob wir nicht schlimmere Probleme zu bewältigen haben. Die Antwort ist Jein: Natürlich geht es beim Artenschutz zuallererst darum, Lebensräume zu retten oder neu zu schaffen und gefährdete Arten zu erhalten. Aber wie sollen wir den Zustand einer Art einschätzen, wenn niemand mehr erkennt, was da fliegt, kriecht oder wächst? Der Alarm schlägt, wenn Arten verschwinden, oder deren Nachwuchs nicht mehr gedeiht? Ohne ehren- und hauptamtlich tätige Artenkenner ist Naturschutz schlicht unmöglich. Ihr Wissen, ihre Kenntnisse und ihre über Jahre und Jahrzehnte hinweg gesammelten Erfahrungen bilden erst die Grundlage dafür.
Droht ein Aussterben der Artenkenner?
Die Zahl der Artenkenner hat in den letzten 20 Jahren um 21 Prozent abgenommen. Das haben der damalige BN-Artenschutzexperte Kai Frobel und sein Kollege Helmut Schlumprecht 2014 bei einer aufwendigen persönlichen Befragung von 70 hauptsächlich bayerischen Artenkennern festgestellt. Es war bundesweit die erste quantitative Studie zum Thema. 2016 erschien ein Artikel zur Erosion der Artenkenner in der Zeitschrift Naturschutz und Landschaftsplanung. Was die Situation noch verschärft: Die meisten Artenkenner sind heute bereits 60, 70 oder 80 Jahre alt; nur 7,6 Prozent von ihnen sind unter 30. Es ist also absehbar, dass viele der Experten ihre Tätigkeit mittelfristig aufgeben werden. Sie werden bleibende Lücken hinterlassen, denn aus den Schulen und Universitäten kommt kaum Nachwuchs. Mittlerweile fehlt eine ganze Generation von Artenkennern. Das wird in zehn bis 20 Jahren zu einem drastischen Einbruch führen, wenn wir nicht schleunigst gegensteuern.
Was sind die Gründe für die Erosion der Artenkenner?
Die Erosion der Artenkenner hat drei zentrale Gründe:
- Kinder erleben zu wenig Natur,
- Lehrern fehlt die Artenkenntnis,
- marktwirtschaftliche Ausrichtung an Universitäten.
Wie Frobel und Schlumprecht bei ihrer Befragung feststellten, entdeckte ein großer Teil der heutigen Artenkenner die Natur als Kind in ihrer nächsten Umgebung: in heckenreichen Offenlandschaften, schönen Wäldern und geheimnisvollen Auen. Dort haben sie die Arten kennengelernt und deren Schönheit und Faszination erlebt. Heute aber wachsen viele Kinder in einer Umgebung auf, die von Fichtenmonokulturen, Maisäckern und Güllewiesen geprägt ist – da gibt es nichts mehr zu entdecken oder zu erleben. Daran ändert auch die Schule nur wenig. Weil den meisten Lehrern heute ebenfalls jede Artenkenntnis fehlt, können sie den Schülern diesbezüglich nichts vermitteln. Möglicherweise vermeiden sie es sogar, mit den Schülern in die Natur zu gehen, um peinlichen Fragen zu entgehen.
Ein weiteres großes Problem zeigt sich an den Universitäten. Diese sind heute vor allem marktwirtschaftlich orientiert. Sie erhalten ihre Drittmittel von der Industrie, also geht es bei Lehre und Forschung vor allem um Gentechnik. Artenkenntnis hingegen scheint wirtschaftlich nicht attraktiv zu sein. In den letzten Jahrzehnten wurden Bestimmungskurse im Freiland und entsprechende Lehrstühle massiv abgebaut. Das Fazit von Kai Frobel: „Wir haben an den Universitäten heute vor allem Manipulateure des Lebens, aber zu wenige Kenner des Lebens.“
Welche Probleme bringt die Erosion der Artenkenner mit sich?
Bereits heute werden Artenkenner dringend gesucht: Biologische Planungsbüros, Naturschutzfachbehörden und -verbände haben aktuell Probleme, junge Mitarbeiter und Nachfolger mit ausreichender Artenkenntnis zu finden. Damit sind die fachliche Basis des Naturschutzes und der wichtige gesellschaftliche Diskurs über die schwindende Artenvielfalt gefährdet. Wir brauchen Menschen, die Tiere und Pflanzen draußen erkennen und beobachten, die aus eigener Anschauung und Geländekenntnis Biodiversität „messen“ und qualifiziert dokumentieren können.
Diese Experten übernehmen auch eine wichtige Funktion als „Frühwarnsystem“, denn sie erkennen Veränderungen durch ihre Arbeit im Gelände oft viel früher als die Wissenschaftler in den Laboren. So haben beispielsweise in den 1970er-Jahren Vogelkundler festgestellt, dass Vogeleier immer dünnere Schalen bekommen und dadurch zerbrechen. Nur durch ihre Aufmerksamkeit ist die Problematik des Insektizids DDT erkannt worden. Heute wiederum sind die Amphibienkenner dabei festzustellen, dass Glyphosat tödlich auf Amphibien wirkt.
Wer muss handeln?
Eine gute Artenkenntnis entsteht nicht von heute auf morgen. Experten für eine oder mehrere Tierarten müssen einige Jahre lernen, üben und Erfahrungen draußen in der Natur sammeln. Deshalb ist es wichtig, die Nachwuchsförderung langfristig und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzulegen. Gefragt sind hier viele verschiedene Akteure:
- Die Eltern: Viele der heutigen Artenkenner gaben an, dass ihre Eltern den Grundstein für ihre Naturbegeisterung gelegt hätten. Dabei kam es erstaunlicherweise nicht darauf an, ob die Eltern selbst Spezialisten waren. Wichtig ist offensichtlich nur, dass Eltern mit den Kindern in die Natur gehen und dabei Neugierde und Interesse wecken.
- Die Schulen und Universitäten: Wir brauchen wieder Lehrer, die draußen in der Landschaft wenigstens einen Teil der Artenfülle erklären und erläutern können. Hier müssen in der Lehrerausbildung (Didaktik der Biologie) wieder andere Schwerpunkte gesetzt werden. Außerdem müssen die Universitäten wieder Artenkenner ausbilden, das ist eine ihrer gesellschaftlichen Aufgaben. Das Bundesumweltministerium hat diese Forderung auf Drängen des BN sogar in seiner Naturschutz-Offensive 2020 verankert.
- Die Artenkenner: Die Artenschutzspezialisten müssen sich mehr um den eigenen Nachwuchs kümmern und als Mentoren junge Leute für den Naturschutz gewinnen, begeistern und ausbilden.
- Die Naturschutzorganisationen, -behörden und -institutionen: Naturschützer müssen unbürokratisch und über Verbands-, Behörden- und politische Grenzen hinweg zusammenarbeiten, um Artenschutz-Nachwuchs zu fördern. So wie es die gemeinsame Resolution Zukunft für neue Artenkenner! von Bayerischer Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) und BUND Naturschutz vorsieht. In nächster Zeit wird es darauf ankommen, Modellprojekte anzustoßen, Erfahrungen zu sammeln und herauszufinden, welche Konzepte besonders erfolgreich sind. Dafür braucht es die Unterstützung des Freistaates.